Herklotz, Ingo - Becker, Ingeborg (Hg.): Otto Von Simson 1912-1993: Zwischen Kunstwissenschaft Und Kulturpolitik. 256 p., ISBN-13: 978-3412515973, 40 €
(Böhlau Verlag, Köln 2019)
 
Compte rendu par Paolo Sanvito, Akademie der WIssenschaften Österreich
 
Nombre de mots : 3175 mots
Publié en ligne le 2020-08-27
Citation: Histara les comptes rendus (ISSN 2100-0700).
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          Der 2018 den 25. Todestag von Otto von Simson gedenkende Kongress brachte mehrere Fortschritte, die an den nachfolgend erschienenen Beiträgen ablesbar werden. Von Simson ist für die Autoren der in den Studien Zur Kunst erschienen Textsammlung nicht nur ein ehrwürdiger Kunstgeschichtsprofessor gewesen, sondern auch ein glänzender Verfechter der Werte deutscher Zivilisation. Der Band hebt hervor, wie fruchtbar, komplex, aber auch intrinsisch die Spannungen zwischen Emigration und intellektueller Inspiration, zwischen Lebensplanung und künstlerischer Berufung im Leben von Simsons waren, wie sie sonst nur in sehr wenigen Lebensläufen auftreten. In seinen jungen Jahren schrieb er sogar Gedichte, wie seine Schwester bezeugte. Man kann durchaus eine glückliche Zusammenfügung unterschiedlicher Zeitströmungen in einer einzigen Biographie erkennen, mit der Folge eines zwar bedrohten und gefährdeten und zugleich auch spannenden Lebensschicksals. Von Simson und seine Familie sind 1939 sehr knapp der Deportation und Ermordung entgangen, seine intellektuelle Biographie wurde aber infolge der Intensität eines Zeitalters, das viele, auch positive epochale Wendepunkte für die Kultur Europas aufwies, eine der interessantesten überhaupt. Damals zwangen die starken nationalen Gefühle dieser Zeit, die bekanntlich die Triebkräfte der Totalitarismen waren, jeden Zeitgenossen dazu, sich zu seiner Identität zu bekennen. Sie betrafen unleugbar auch von Simson selbst. Vielen mitteleuropäischen „Halb-Juden" wurde überhaupt nur durch die Nationalsozialisten bewusst, dass sie eben "Juden“ waren bzw. zu sein hatten.

 

         Die Erkenntnis des engen Zusammenhangs zwischen (äußerer oder innerer / äußerlicher oder innerlicher) Emigration und Erkenntniszuwachs sowie der Relevanz der Übermittlung der eigenen Kultur in die fremde bzw. zunächst fremde Welt, findet sich in einigen Thesen der Autoren des Sammelbandes, allen voran im Beitrag von Karen Michels über die durch die italienisch-deutsch-amerikanischen katholischen Netzwerke ermöglichte Emigration. Hier wird ausgesprochen, dass das Buch The Gothic Cathedral "wohl nicht geschrieben worden" wäre ohne die Exilsituation in der amerikanischen Kultur, die der deutschen sehr fremd war.[1] Eine universelle Erscheinung des menschlichen Daseins ist, dass der Fremde am besten geeignet ist, von seinem angeblich distanzierten perspektivischen Standpunkt eine ganze Kultur am Präzisesten zu bewerten, eher als die angeblichen Akkulturierten, seien diese "Arier", "Deutsche", Juden oder Christen wie im Falle von Simsons.

 

         Exil und Emigration gingen zwar eventuell mit Erniedrigungen einher, und um 2020 ist dies wahrer denn je, doch dem fünfundzwanzigjährigen angehenden Akademiker wurde bald erstaunlich klar, wie viele neue kognitive Horizonte sich ihm in Amerika eröffneten. Er erlebte die Emanzipation von der stark diskriminierenden, industriell-klassendominierten Gesellschaft des Dritten Reichs und ihren hierarchischen Geisteshaltungen, die auch deutsche Juden zu ihrem eigenen Nachteil verinnerlicht hatten. Der Katholik und Kritiker des Nationalsozialismus Schöningh, der später zum Begründer der Süddeutschen Zeitung und dadurch ein konstanter Auftraggeber von Simsons wurde, sprach ihm die kostbare Fähigkeit zu, "kunstgeschichtliche Fragen […] in die großen geistesgeschichtlichen Zusammenhänge einzuordnen [zu] verstehen".[2] Schöningh war ein typischer Vertreter der politischen und menschlichen Zerrissenheit dieser Zeit und bewegte sich schließlich auf der Linie des Regimes: Von 1942 bis 1944 war er als "ziviler Kreisverwalter" (wie es in der Amtssprache hieß) in Galizien für Judenmorde im Rahmen der "Endlösung" (mit)verantworlich.[3]

 

         Dem Beitrag von Ingo Herklotz über die Zeit in New England und Chicago entnimmt man weitere relevante Fakten über den zähen Eingliederungsprozess von Simsons in die neue akademische Welt Amerikas.[4] Knapp ist von Simson sogar dem beruflichen Niedergang entgangen, der in den Zeiten von Gleichschaltungen, Krisen und Korruption in der Kulturpolitik auch die glänzendste wissenschaftliche Karriere zu ruinieren vermag. Sich davor in Acht zu nehmen, beschwor ihn sein ehemaliger Freiburger Dozent Walter Friedländer, damit nicht von Simsons "Geist sich vorzeitig zersplittern und sich in mediokren Tätigkeiten totlaufen" würde (diese Worte in einem Empfehlungsschreiben sollten von seinen Gastgebern gelesen werden, sind aber zugleich eine Warnung an von Simson).[5] Man spürt sehr wohl, mit welchen zwiespältigen Gefühlen er den Ruf an das Marymount College in Tarrytown annahm. Im weiteren Verlauf konnte er (vermutlich mit größerer Freude) an die women's university Saint Mary's College in South Bend in Indiana wechseln, ein noch heute der Universität von Notre Dame untergeordnetes, kleineres Kolleg. Schon Notre Dame University war relativ beschaulich, umso mehr galt dies für die kleineren Kollegien, die mit ihr verbunden waren.

 

         Auch aus heutiger Perspektive bedeutet das nicht, dass das akademische Leben in South Bend damals eingeschränkter war als heute. Immerhin gelang es Notre Dame selbst, eine weitere deutsch-jüdische Persönlichkeit preußischer Abstammung anzuwerben, nämlich keine geringere als Hannah Arendt. Saint Mary's verlor erst gravierend an Bedeutung, als nach von Simsons Abschied die Schwesterinstitution Notre Dame auch Studenten weiblichen Geschlechts erlaubte sich zu immatrikulieren, was für eine Schwerpunktverlagerung und ein Ungleichgewicht zu Gunsten von Notre Dame sorgte. Wie ich bei meinem Aufenthalt jüngerer Zeit feststellen konnte, wurde das katholische theologische Institut sogar von einem Rabbiner geleitet, was sicher zu von Simsons Zeiten noch undenkbar war. Aber bereits 1939 wurde dort nicht zufällig ein anderer konvertierter Katholik, Philosoph höchsten Niveaus, ehemaliger Jude und alter Freund von Arendt, Waldemar Gurian, Inhaber der geachteten Professur für Politikwissenschaften. Der Kontrast zu einer früheren Ausbildungsstätte des Exilanten von Simson in München hätte nicht größer sein können. Als der dortige Institutsdirektor von Simsons Dissertation begutachten musste, bediente sich der Institutsdirektor plakativ und einfallslos des Vorurteils vom tüchtigen, aber "unschöpferischen" Juden um einen unbequemen, nichtarischen Studenten effizient loszuwerden. In Anbetracht der exzellenten Leistung von Simsons kann die Aussagelosigkeit des Gutachtens heute nur noch empören, auch wenn unter dem trügerischen Himmel des akademischen Lebens nichts unvorstellbar ist.

 

         Eine weitere empörende kleine Geschichte wird von der Autorin und Kuratorin Ingeborg Becker am Rande in einer Fußnote erwähnt, sie könnte jedoch zu ihrem eigentlichen Kontext zurückgeführt werden, demjenigen der ganzen fassbaren Tragik der endlosen Reihe von Demütigungen und Diskriminierungen eines jeden Juden noch im Vorkriegs-Nazideutschland. Der Aufsatz verdient vor allem wegen der Analyse der romantischen Malerei Beachtung. Aber auch von Simsons erste kleine Schrift zum Thema, zugleich Tranche der Forschungen von 1938 über die deutsche Malerei der Generation Philipp Otto Runges, wurde bei der "befreundeten" Zeitschrift Hochland erst einmal geparkt, danach unter dem Tisch fallen gelassen. Zwar ist die Ablehnung in einem Mantel von Honigworten eingehüllt: Im Januar 1939, in der Tat, in einem eigentümlichen Abschiedsbrief, der Zeitschriftredakteur, wieder ein zwiespältiger Schöningh, "bedauert" eine unmögliche Zusicherung einer Drucklegung in einem solchen Kontext – des Exils, schließlich – mit all seinen begleitenden "Schwierigkeiten der Zukunft" (offene Anspielung darauf, dass sich die bevorstehende Auswanderung als alles Andere als eine Vergnügungsreise profilierte). Während einerseits die opportunistischen Motive einer solchen halbleisen Beitragsablehnung klar sind, vielleicht ganz einfach das "rassisch abweichende Blut" des Verfassers, mittels affektierter Paraphrasierungen bringt man beim Adressaten sein großes "schriftstellerische Talent" zum Ausdruck, das der Artikel aufweisen soll.[6]

 

         Von Simson wird in seiner kurzlebigen, experimentierfreudigen Studienzeit von H. G. Hannesen als ein Außenseiter porträtiert, der tiefe existentielle Krisen zu überstehen hatte und sich daher immer wieder neu finden und definieren musste. Aber das war kaum anders zu erwarten. Wenn ein gerade Promovierter der Universität München seinem ehem. Prof. Friedländer "leicht erschrocken" vorkam, dann braucht man nur an bestimmte Daten des frisch installierten Dritten Reichs zu denken wie den 6. oder den 10. Mai, an denen die beiden Bücherverbrennungen in München stattfanden.

 

         Als transfuga oder Flüchtling in mehrfachem Sinne, der von seiner ursprünglich jüdischen zur gentilis Identität und unter Nazi-Einfluss wieder zurückgewechselt war und von der protestantischen Konfession in die katholische übergetreten, als Flüchtender von Europa nach Amerika geraten war, wurde von Simson der lebendigste Repräsentant des progressiven Katholizismus und der befruchtenden Produktivität der christlichen Gesinnung für die Wissenschaft, zumindest für sein geisteswissenschaftliches Fach: Er wurde zu einem Intellektuellen, der für die Werte des Abendlandes, sowohl die Deutschlands als auch die Gastgeberlandes Amerika Partei ergreifen durfte. Man kann sich vorstellen, aus welchen unendlichen Quellen seine von den Kollegen bestaunte Arbeitsleidenschaft an der Freien Universität Berlin dann schöpfte. Zum Verständnis seines Zustandes nach der Bekehrung könnte man das Buch eines evangelischen Theologen heranziehen: die psychologische Schrift Persönlichkeitsänderung in Bekehrungen und Depressionen von Edmund Schlink (Vater des Kunsthistorikers Wilhelm), der 1927 an der Universität Marburg promoviert wurde. Besonderes Vorbild müssen für von Simson die guten Charaktere unter den Geistlichen aller Konfessionen gewesen sein: Juden, Protestanten der Bekennenden Kirche und natürlich - ihm am nächsten - die Katholiken. In Freiburg und später in Amerika wurde er von einem der damals seltenen jüdischen Professoren unterstützt, von Walter Friedländer (1873-1966). 

 

         Besonders ausschlaggebend und befruchtend muss sein tiefgehender Austausch mit der Katechese gewesen sein, worüber Hannesen in wenigen Worten Aufschluss gibt. Zum Wechsel von einer Konfession in eine andere gehörte für von Simson eine Erneuerung des inneren Menschen, die ihn befähigte, die Fundamente des neuen Glaubens zu verstehen und zu verinnerlichen. Offensichtlich erwies sich der katholische Glaube unter allen Religionen als die dem Mittelalter am nächsten verbundene. Dies eröffnete dem jungen Wissenschaftler die Möglichkeit eines tieferen Eindringen in die Prinzipien der christlichen Religion.

 

         Wie Herklotz formulierte, schärfte "die Zeitgeschichte das kunsthistorische Sensorium für die Parteinahmen und politischen Standpunkte der Vergangenheit".[7] Damit ist von Simson genau charakterisiert. Er wurde ein bedeutender Erforscher der gesellschaftlich-politischen Inhalte aller Kunstobjekte, seien es große Kathedralbauten, Andachtsbilder in bildhauerischer oder malerischer Form, oder städtebaulicher Reformen ganzer Residenz-Hauptstädte wie Ravenna oder Residenzstädte (Bamberg). Allerdings stößt die hermeneutische Herangehensweise von Simsons auch an Grenzen wie etwa bei der Bewertung der Personifikationen der Medici-Galerie von Rubens, die nach Herklotz vornehmlich nach Prinzipien "religiöser Ethik" erfolgt, ohne dass Aspekte der ikonographischen bzw. rhetorischen Propaganda berücksichtigt würden.[8]

 

Die Relevanz der Gotik-Forschungen.

 

         Zugleich wurde die Kunstära der Gotik, begriffen als Forschungsgegenstand, zu einem Reibungspunkt oder einer Kampfstätte auf höchster Ebene, positioniert am Schnittpunkt von mehreren kulturellen und historischen Schichten bzw. Epochen, die sich bis in die Gegenwart gegenseitig ablösten. Seit der Neubetrachtung der Gotikforschung durch von Simson waren alle anderen Kulturkreise gezwungen, sich dazu zu äußern und sich dadurch voneinander abzugrenzen. Über die Gotik-Definitionen erfolgte (ähnlich wie bei anderen Architekturströmungen, etwa dem Palladianismus) die Differenzierung, wie Bruno Klein es ausspricht, der einen von der anderen "Gesellschaft",[9] des einen von dem anderen Kulturkreis, der potentiell sogar als feindlich galt. Alle Interpretationen waren, soweit sie nicht von der Sprachanalyse geläutert wurden, Kulturtheorien, die der jeweils eigenen historischen Lage des Theoretikers entsprangen. Dass gerade die Exilierten wie von Simson und der häufig unterschätzte Paul Frankl, auch Re-Emigrant, das eigentlich moderne Verständnis der Gotik anbahnten, spricht Bände. Dazu könnte man, chronologisch etwas vorgezogen, auch Louis Grodecki zählen, der trotz seiner intensiven Verbindung zu den deutschen Kollegen auf dem Weg nach Paris über Freiburg und Straßburg kam und dort keine nationalspezifische Vision mehr anbieten wollte und konnte. Dafür war und ist ihm Frankreich dankbar, er hätte es durchaus verdient, wie Frankl in dem Beitrag Erwähnung zu finden.[10]

 

         Da die Gotik die Welt der Dynasten Europas vertrat – nicht zufällig wurde ein Unter-Stil "court style" genannt -, konnte sie zur erhabenen Projektionsfläche der Idealvorstellungen mittelalterlicher Gesellschaften in Europa werden, man bemühte sich, "gotische Sakralbauten metaphorisch zu überhöhen, um aus ihnen schließlich ein Ideal herauszudestillieren".[11] So wurde die "Idealisierung der Gotik" mit dem "Zeitgeist der Moderne" verbunden. Selbst auf die weniger horizonterweiternde Schrift von Sedlmayr trifft eine solche Einordnung zu. Bei den Fachkundigen blieb aber trotzdem sein von Simson entgegengesetzter Charakter haften, was neueren Mediävisten offenbar nicht mehr ausreichend erklärt wird. Das zeigt Rolf Tomans Behauptung aus dem Jahr 1999, von Simson folge "Jantzen's and Sedlmayr's formal and analytical tradition of interpretation"![12] Offenbar zeigen solche Konfusionen, dass die Hermeneutik von Kathedralen neuerdings als nicht mehr "systemrelevant" gilt; vielleicht wegen des Wegfalls der "Ideale".

 

         Welche tiefen Wurzeln jedenfalls dieses merkwürdige kulturelle Phänomen der vor allem deutschen Mediävistik des letzten Jahrhunderts letztlich entstammt, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Vielleicht muss man auf das Verhältnis zur Spiritualität in den Ländern der Aufklärung wie in der alten ostpreußischen Heimat der von Simsons verweisen, die damals allein eine emanzipierte Verbindung zur ursprünglichen jüdischen Weisheit ermöglichte. Eventuell spielte die privilegierte Lage der Ostjuden aus dem (unfreien) russischen Grenzsiedlungsrayon (Čerta osiedlosti) eine Rolle, die mit der Hierarchie und dem Wissen der orthodoxen oder katholischen Kirche paritätisch kommunizieren durfte. Nicht zufällig wurden in Berlin zwei lokale Jesuitenpatres zu von Simsons Betreuern. Es fragt sich zugleich, wer unter den damaligen nichtjüdischen Wissenschaftlern die "Psychologie" (so von Simsons Titel) der mittelalterlichen Kathedralen thematisieren durfte. Wo psychologische Deutungsmuster und -kategorien angewandt werden, kommt es zur Dekodifizierung der institutionellen Kirchen und ihres Gerüstes/Arsenals, werden die Inszenierungsstrukturen des Ritus, der Liturgie oder der Konzeption des sakralen Raums in ihrem tiefsten Wesen entziffert.

 

 

"Der liebe Gott" in Person? Der Titel von Karen Michels Beitrag sagt alles.

 

         Das sympathische Zitat aus einem Satz Frau von Simsons ("Eine Empfehlung vom lieben Gott ganz persönlich")[13] mag wie eine reine boutade klingen, spricht aber Bände über die Verbindung der Familie der Simsons nicht nur zur Religion, sondern auch zur Kirche als Institution. Dahinter steckt natürlich viel mehr als rein Formales bzw. es kann eine gewisse Form nur mit einem bestimmten dazugehörigen Inhalt zu tun haben.

 

         Eine neue gesonderte Betrachtung könnte die Studie zum Bamberger Reiter auf Grund der weitgreifenden psychologiegeschichtlichen Aspekte der Hermeneutik von Simsons verdienen, wenngleich nach der heutigen Forschung die Verbindung – nicht zuletzt zu meinem Bedauern - nicht nach Italien, sondern nach Ungarn ausgerichtet werden soll und man in dem Dargestellten den ersten christlichen ungarischen König Geza/Stephan sieht.[14] Die Studie entstand genau im Moment der Bekehrung zum Katholizismus (um 1937; publiziert wurde erst im Exil 1940). In die Recherche wurde der Thomismus wie auch die "Mythologie des christlichen Weltbildes" einbezogen, um nach einem heute noch aktuellen Konzept von Kunstwissenschaft "zu ihrem [des Kunstwerkes] Kern und ihrem mythischen Wesen vorzudringen". Hier könnte man unschwer Anklänge an die zeitgenössischen Theorien Panofskys erkennen, auch wenn es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen Freiburg-Berliner alumnus gab, denn von Simson und Panofsky teilten bei allen Haltungsverschiedenheiten diese beiden almae matres (mehr dazu in meiner Rezension von Gerda Panofskys Panofsky-Biographie in den Horti Hesperidum 2018).[15] In dieser Forschungslinie, die von Simson noch lange in Amerika verfolgte, sah Ingo Herzklotz eine Verbindung von Kategorien sowohl der Theorie des kulturellen Gedächtnisses, die damals wohl noch nicht formuliert war, als auch der Jungschen Schule,[16] obwohl diese in von Simsons Analysen nicht wörtlich vorkommt. Jedoch waren Begriffe wie derjenige des kulturellen Gedächtnisses oder des kollektiven Unterbewussten (präziser bei Jung: Unbewussten) lange vor 1940 im Umlauf auch weit über Europa hinaus und wurden von vielen Übersetzungen ins Englische auch durch amerikanische Verlage verbreitet.[17]

 

         Diese Anzeige, die ich meinem verehrten Lehrer Wilhelm Schlink widme, mag eine Ahnung von der Wertigkeit dieses Sammelbandes vermitteln, kann aber die Lektüre nicht ersetzen: die ich allen ans Herz legen möchte. Bewusst habe ich die Option vorgezogen, nicht die gesamte wissenschaftliche Produktion des Gefeierten in den unterschiedlichen und unabhängigen Forschungssektoren: vielmehr möchte man dessen Persönlichkeit in seiner Ganzheit vergegenwärtigen, mit ihren disparaten Grundlagen, der Dichtung, der Antikenrezeption in der Geschichte der Malerei, bis zur politisch-historischen Analyse der Staatskunst von früheren Königreichen und nicht zuletzt zur Auseinandersetzung mit Intellektuellen mit kulturellen Wurzeln und Orientierungen, die von Simson fremd waren. Im Übrigen, ist es sehr schwierig zu bestimmen, wegen welchen Teils seines Nachlasses von Simson hätte am liebsten erinnert werden wollen, und dann auf welche Weise. Die Antwort auf diese Frage mag nur scheinbar banal vorkommen, hingegen ist diese eine ewige und universelle Frage, die sich bei fast jedem Nachlass stellt.

 

         Vor allem als Katholik, und wegen seiner katholischen Ausbildung und Stellung, die sich nach z. T. erschreckenden Konflikten, Zweifeln, Krisen ertüchtigt hatte, muss die höchste Anstrengung seiner intellektuellen Biographie diejenige gewesen sein, zu einer artikulierten, aber zugleich einheitlichen Vision zu gelangen. Diese Anstrengung schimmert durch so gut wie alle Forschungsbaustellen der Autoren dieses Bandes hindurch. Ein solches Streben nach Konsequenz und Einheitlichkeit charakterisierte von Simsons berufliches so wie spirituelles Leben, vor allem deutlich in seiner Auslegung der gotischen Architektur. Man möchte schließlich in von Simson diesen Drang nach einer unbetrübbaren Kraftlinie privilegieren: er entdeckte und dann verfolgte sie im Magma der - mindestens – zerstörerischen, manchmal kriminellen Kräfte und Bewegungen seiner Heimat einer zerbröselnden Generation, die ewigen Opponenten auch des Menschlichkeitssinns, Knotenmoment aller Konfessionen, welche sogar in den 30er Jahren auf dessen Grundlage sogar aufeinander zugingen. Dies ist sicher Teil des Nachlasses, den von Simson hätte vererben wollen: Eine leuchtende Kohärenz in den Idealen und in den Ideen. Auch seine damaligen Berliner Studenten könnten es wertgeschätzt haben. Ich glaube, dass die gegenwärtigen Generationen von Simson genauso auf dieser Basis in ihm ein Vorbild sehen können, damit hat seine Wirkung weiterhin Aktualität.

 

 


[1] Michels, Eine Empfehlung vom lieben Gott ganz persönlich, 113-124,123.

[2] Michels a.a.O. 123, aus einem Brief von 1939.

[3] Knud von Harbou, Wege und Abwege. Franz Josef Schöningh, der Mitbegründer der Süddeutschen Zeitung. Eine Biografie, München, Allitera Verlag 2013.

[4] Dazu einstimmig Michels, 117: die "Eingliederung in das akademische Gefüge der USA gestaltete sich schwieriger als die der meisten übrigen Kollegen".

[5] Friedländer, Walter, Empfehlungsschreiben für Amerika, zit. im Vorwort von Herklotz / Becker, 9.

[6] "Schriftstellerische Begabung", Becker 242.

[7] Herklotz, Peter Paul Rubens zwischen Geistesgeschichte und politischer Ikonographie, 99.

 

[8] Herklotz, 96.

[9] Bruno Klein, Eckstein oder Schlussstein. Otto von Simsons The Gothic Cathedral / Die gotische Kathedrale, 150.

[10] Weil "mittels Gotik-Interpretationen … über viele Jahrzehnte hinweg vermeintlich kulturgeschichtlich-wissenschaftlich begründete Analysen der zeitgenössischen Gesellschaft stattfanden. Was man für ideal hielt, wurde in die Gotik hinein- bzw. aus ihr herausgelesen" (Klein 151).

[11] Klein 151.

[12] Gothic: Architecture, Sculpture, Painting, Köln: Konemann 2013, 13.

[13] Zitat eines früheren Ausspruchs von Ottos Vater, Ernst von Simson, der damit die Empfehlung von Kard.  Pacelli, inzwischen schon Pius XII, meinte.

[14] Aber dies ist selbstverständlich nicht das Thema von Herklotzs Beitrag.

[15] "Le miniere del sale della scienza delle immagini", in: Horti Hesperidum, 8 (2018), 2, 225-230

[16] Herzklotz zumindest 101-102.

[17] Nur stichprobenartig: Kurt Kellner, C. G. Jungs Philosophie auf der Grundlage seiner Tiefenpsychologie, Düren-Rhld.: Spezial-Diss.-Buchdr. Düren, 1937; Carl G. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten, Zürich: Rascher, 1933.

 

 

 

Inhalt

 

Vorwort. 7

 

Hans Gerhard Hannesen

Otto von Simson, Repräsentant einer jüdisch-protestantisch-preußischen Gesellschaft, beheimatet in der katholischen Kirche. 11

 

Anna Maria Voci

„Et in Arcadia ego!“, 33

Otto von Simsons Tagebuch seiner italienischen Reise im Frühjahr 1932

 

 

Ingo Herklotz

Peter Paul Rubens zwischen Geistesgeschichte und politischer Ikonographie. 79

Die Münchner Dissertation von 1936

 

 

Karen Michels

„Eine Empfehlung vom lieben Gott persönlich“. 113

Wie man als jüdisch-katholischer Kunsthistoriker einen Weg in die USA fand

 

 

Carola Jäggi

Kunst zwischen Propaganda und Liturgie: Otto von Simsons Sacred Fortress. 125

 

 

Bruno Klein

Eckstein oder Schlussstein. 143

Otto von Simsons The Gothic Cathedral/Die gotische Kathedrale

 

 

Ingo Herklotz

Chicago und das Abendland. 175

Schritte zur Remigration

 

 

Ingeborg Becker

Der Blick nach Innen. 241

Otto von Simson und die Malerei des 19. Jahrhunderts

 

 

Thomas Gaehtgens

Erinnerungen an Otto von Simson in Berlin. 263

 

 

Bildnachweise. 275

 

 

Personenregister. 277