Meyer, Marion (Hrsg.): Besorgte Mütter und sorglose Zecher. Mythische Exempel in der Bilderwelt Athens. 156 Seiten, 15 S/W-Taf., 29 x 21 cm, kartoniert. ISBN 978-3-901232-69-5. 45 Euro
(Phoibos Verlag, Wien 2007)
 
Compte rendu par Nikolaus Dietrich, Humboldt-Universität zu Berlin
 
Nombre de mots : 1841 mots
Publié en ligne le 2009-10-31
Citation: Histara les comptes rendus (ISSN 2100-0700).
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          Das vorliegende Buch verbindet zwei Untersuchungen von B. Reichardt und F. Heinrich zu Themen aus dem Bereich der attischen Vasenmalerei, welche jeweils aus Magisterarbeiten hervorgegangen sind. Es ist das Verdienst der Herausgeberin M. Meyer, diese Forschungen durch ihr ‚Patronat‘ aus der Versenkung zu retten, in der Magisterarbeiten üblicherweise verschwinden. Der erste Teil des Buches (B. Reichardt) beschäftigt mit dem Bild der Mutter in der attischen Vasenmalerei. Der zweite Teil untersucht die sog. Bodengelage, eine Untergruppe der Gelagebilder auf attischen Vasen, welche sich dadurch auszeichnet, dass keine Klinen dargestellt sind. Gemeinsam ist beiden Untersuchungen der allgemeine methodische Ansatz, welcher auf der (außerordentlich plausiblen) Annahme fußt, dass die Bilderwelt der attischen Vasen und insbesondere deren reiche Mythenikonographien ein Spiegel der Ideale und Werte der athenischen Gesellschaft seien, und folglich jene Ideale und Werte sowie deren Wandel ausgehend von der ikonographischen Analyse der Bilder zu erforschen seien. Obwohl es beide Autorinnen nicht an methodischer Sauberkeit und Behutsamkeit fehlen lassen, stößt dieser Ansatz, welcher uns spätestens seit der „cité des images“ geläufig und geradezu selbstverständlich geworden ist und sich zweifellos auch in vielen Fällen als fruchtbar erwiesen hat, in diesem Buch an Grenzen. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden.


          Die erste Studie (B. Reichardt) ordnet sich in die Reihe der Untersuchungen ein, die sich v. a. seit den 70er Jahren mit der Darstellung der Frau beschäftigen. Die Autorin kann überzeugend darlegen, dass es bisher v. a. die Frau in ihrer Beziehung zum Mann war, der sich die Forschung widmete, die Frau als Mutter jedoch, i. e. in ihrer Beziehung zum Kind, kaum thematisiert wurde. Nun setzt eine Untersuchung der Darstellung von Müttern in der Bilderwelt freilich voraus, dass es möglich ist, Mütter in Bildern überhaupt als solche zu identifizieren. Diese Schwierigkeit wird von der Autorin klar herausgearbeitet (siehe S. 21ff.): Es existieren in der attischen Vasenmalerei keinerlei eindeutige ikonographische Merkmale, welche Mütter von anderen Frauenfiguren unterscheiden würden. Dass auch in scheinbar eindeutigen Fällen bei der Identifizierung von Müttern Vorsicht geboten ist, verdeutlicht das Grabrelief der Ampharete, welche mit einem Kleinkind auf dem Schoß dargestellt ist. Die Inschrift lässt uns allerdings verstehen, dass sie die Großmutter dieses Kindes ist. Die Autorin kann zeigen, „dass dies (erg. die Identifizierung von Müttern) offensichtlich meist nicht im Interesse des Vasenmalers lag“ (S. 22). Der Ausweg, den die Autorin aus diesem Dilemma wählt, besteht darin, sich lediglich auf Mythenbilder zu konzentrieren, bei denen die dahinter stehende Geschichte eine sichere Identifizierung von Frauen als Mütter erlaubt. Daraus ergibt sich eine weitgehende Beschränkung der Studie auf die beiden Heldenmütter Thetis und Eos.

 

          Die darauffolgende systematische Untersuchung aller Mythenikonographien, in denen Thetis, Eos oder andere mythische Mütter vorkommen, nimmt den Großteil der Studie ein. Die besprochenen Bilder kreisen mit wenigen Ausnahmen um die Themen Krieg, Kampf und Tod, wobei die Heldenmütter in den entsprechenden Bildern stets Nebenfiguren sind. Typische Ikonographien der Lebenswelt wie die Bewaffnung und der Abschied des Kriegers, der Zweikampf, der Sieg, das Unterliegen und der Tod des Kriegers werden auf die Ebene des Mythos gehoben und mit entsprechend größerem Pathos verhandelt: Aus der anonymen Waffenübergabe von einer Frau an einen Mann wird die Übergabe der von Hephaistos geschmiedeten Waffen von der Göttin Thetis an ihren Sohn. Aus einem anonymen Zweikampf wird der Kampf zwischen den gewaltigen Helden Achill und Memnon, denen jeweils die mitfiebernden Mütter Thetis und Eos beigestellt sind, welche die Autorin treffend als „Emotionsfiguren“ bezeichnet (S. 74). Der gefallene Memnon wird durch keine Geringere als die geflügelte Eos geborgen. Aus der Rolle, welche die Mütter in diesen Bildern einnehmen, schließt die Autorin, dass es bei jenen mythischen Exempeln von Müttern v. a. um die Werte des aufopfernden Sorgens um die Söhne und der Identifikation mit deren Ruhm ging. Der Überraschungswert dieses Ergebnisses hält sich in Grenzen, deckt es sich doch mit dem, was uns bereits die spärlichen Schriftquellen zu diesem Thema vermitteln: Die zentrale Aufgabe von Müttern besteht darin, Söhne (i. e. Krieger) für die Polis zu gebären.

 

          Müssen wir dieses sehr eindimensionale Rollenbild der Mutter im archaischen und klassischen Athen nun als durch die Bilderwelt der attischen Vasen bestätigt ansehen? Aus zwei Gründen möchte ich dies verneinen: (1) Die besprochenen Ikonographien haben fast ausschließlich mehr oder weniger direkt den Kampf und Tod von Helden im Krieg zum Thema. Kann es dann verwundern, dass Mütter, die in diesen Bildern als Nebenfiguren erscheinen, ganz in ihrem Bezug zu diesen Kriegern aufgehen und darüber hinaus keine ‚eigene’ Wertigkeit zuerkannt bekommen? Die Auswahl der besprochenen Bilder und ihre Themen diktieren hier offensichtlich das Ergebnis der Untersuchung. Natürlich könnte man mit Recht darauf hinweisen, dass es kein Zufall ist, dass sich zwar unzählige Bilder finden, die Krieg und Kampf thematisieren, aber keine Bilder, die Mütterlichkeit thematisieren. Dies zeigt jedoch bloß, wie unwichtig das Thema der Mütterlichkeit gegenüber dem des Kampfes im Kontext des Symposions (der Männer!), in den die große Mehrzahl der Gefäße gehören, ist. Darüber, worin Mütterlichkeit in dieser Gesellschaft besteht, sagt dies dagegen nur in vielfacher Brechung etwas aus. (2) Hiermit wären wir beim zweiten Punkt: Wie es die Autorin selbst herausgestellt hat, besitzen Mütter in der attischen Vasenmalerei keinerlei eigenes ikonographisches Profil. Der Ausweg, welchen die Autorin aus diesem Problem gefunden hat, nämlich nur solche Bilder zu behandeln, in denen Mütter durch den Rekurs auf einen Mythos oder durch eine Inschrift als solche gesichert sind, ist keine Lösung, bringt er doch das eben beschriebene Problem mit sich. Die Erkenntnis, dass es eine ikonographisch abgegrenzte Figur der Mutter in der attischen Vasenmalerei nicht gibt, müsste vielmehr dazu veranlassen, die Frage nach dem ‚Bild der Mutter’ in der attischen Vasenmalerei schlicht aufzugeben, und stattdessen der Frage nachzugehen, warum in der attischen Vasenmalerei zwischen Jungfrauen, Ehefrauen und Müttern ikonographisch nicht klar unterschieden wird, obwohl diese Unterschiede in der athenischen Gesellschaft ganz offensichtlich höchst relevant waren. Ein analoges Phänomen wäre z. B. jenes der fehlenden klaren ikonographischen Unterscheidung zwischen Hetären und Bürgerinnen.

 

          Anders als die erste Studie, welche eine Frage (die nach dem Bild der Mutter in der attischen Vasenmalerei) zum Ausgangspunkt nimmt, zu deren Beantwortung in einem zweiten Schritt bestimmte Ikonographien zur näheren Untersuchung herangezogen werden, geht die zweite Studie unmittelbar von einer Gruppe von Bildern aus. Anhand derer gelingt es der Autorin, einige grundsätzliche Fragen zur attischen Vasenmalerei aufzuwerfen: In welchem Verhältnis steht die Darstellung zur Wirklichkeit? Inwieweit werden unterschiedliche Räume in den Bildern wiedergegeben? Wie sind die teils erheblichen ikonographischen Unterschiede zwischen gleichzeitigen schwarz- und rotfigurigen Bildern zu verstehen?

 

          Überzeugend kann F. Heinrich darlegen, dass die klinenlosen Gelage unter Weinreben  nicht als ‚Picknick im Grünen’ zu verstehen oder mit bestimmten kultischen Gelagen zu verbinden sind, wie es in der Vergangenheit versucht wurde. Ebenso kann sie die Deutung der Bilder als Gelage des einfachen Volkes, das sich keine Klinen leisten konnte, widerlegen: Die sog. Bodengelage erscheinen in den Bildern keineswegs karger als die Klinengelage. Die klare Unterscheidung zwischen klinenlosen Gelagebildern mit Weinreben als Hintergrundmotive im Schwarzfigurigen und mit hängenden Symposionsutensilien als Hintergrundmotive im Rotfigurigen, welche von der früheren Forschung als Unterscheidung zwischen Gelagen im Freien und Gelagen im Haus interpretiert worden war, erklärt die Autorin mit dem Unterschied der schwarzfigurigen und der rotfigurigen Maltechnik: Das Malen von dünnen Zweigen und Blättern war in rotfiguriger Umrisstechnik ein sehr aufwendiges und schwieriges Unterfangen, weswegen man auf Weinreben als Hintergrundmotive verzichtete. Dadurch relativiert sich die räumliche Deutung dieses ikonographischen Unterschieds. Gleichzeitig führt die Autorin damit ein schönes Beispiel dafür an, wie stark Ikonographie von technischen Vorgaben bestimmt sein kann. Auch weist die Autorin darauf hin, dass die große Mehrheit der klinenlosen Gelagebilder im Rotfigurigen auf niedrigen Bildfeldern (etwa von Schalen) erscheinen. Der Verzicht auf die Darstellung der Klinen ermöglicht es den Malern, die geringe zur Verfügung stehende Höhe für die Wiedergabe der gelagerten Symposiasten zu nutzen. Auch hier erweist sich also die Abhängigkeit der Ikonographie von technischen Vorgaben. Dies sollte vor vorschnellen Versuchen warnen, für jedes ikonographische Phänomen eine inhaltliche Interpretation zu suchen.

 

          Mit ihrer kritischen Prüfung früherer Deutungsversuche der sog. Bodengelage hat die Autorin einige Themen angeschnitten, die über den eigentlichen Untersuchungsgegenstand weit hinausgehen. Insbesondere die Kritik an der in der Vergangenheit gemachten, unhinterfragten räumlichen Zuweisungen von Gelagebildern ins Freie, in den Weinberg oder ins Haus, könnte m. E. der Ansatz zu einem grundsätzlichen Überdenken unserer Vorstellung von der Darstellung von Räumen und Orten in der attischen Vasenmalerei sein. Keine dieser ‚Fährten’ wird jedoch konsequent weiterverfolgt. Stattdessen geht die Autorin unmittelbar dazu über, eine eigene, neue inhaltliche Deutung der Bodengelage vorzuschlagen, bevor sie zu einer Klärung jener grundsätzlichen Fragen gelangt ist: In Abgrenzung gegenüber Interpretationsansätzen, welche einen unmittelbaren Wirklichkeitsbezug der Bilder annehmen und somit aus dem Fehlen von Klinen schließen müssen, dass die dargestellten Symposiasten tatsächlich auf dem Boden lagern, versucht die Autorin das Fehlen von Klinen als Annäherung an das Gelage des Dionysos und seines Thiasos in der wilden Natur zu interpretieren – ohne dass damit die konkrete Vorstellung von am Boden lagernden, realen Symposiasten gemeint sei. Besonders weit gehe diese Annäherung an das mythische Gelage des Dionysos in den ‚Bodengelagen’ unter Weinstöcken: Die menschlichen Symposiasten würden „ein imaginäres Gelage im Machtbereich des Dionysos feiern“ (S. 129). Das sog. Bodengelage sei also eine Weise, die Werte des Dionysischen, des Wilden und des ‚Draußen’ in die Bilderwelt des Symposions einzubringen.

 

          Es lässt sich fragen, ob damit wirklich etwas gewonnen ist: Haben wir die Bilderwelt des Symposions besser verstanden, wenn die klinenlosen Zecher nun nicht mehr draußen, sondern im ‚Draußen’ lagern? Das Setzen von Anführungszeichen enthebt den Interpreten scheinbar von der Verpflichtung, präzise auszuformulieren, was gemeint ist: Ein Lagern im Freien oder im Inneren? Diese binäre Alternative ist auf die Bilder nicht anwendbar, und es ist das Verdienst der Autorin, dies herausgearbeitet zu haben. Doch was bleibt dann von jenem ‚Draußen‘ übrig als nur die Anführungszeichen? So verlockend es scheint, auf die Bilder des Symposions die Matrix der „nature-culture“-Antithese anzuwenden, so ist zu fragen, ob diese aus dem Befund überhaupt hervorgeht. Wenn man sich, wie die Autorin, von der konkreten Vorstellung eines ‚Picknick im Grünen‘ lösen möchte, hilft es dann weiter, die klinenlosen Gelage unter Weinreben schlicht als imaginäre Gelage zu bezeichnen, deren Ort der Machtbereich des Dionysos sei? Dass manche Bilder imaginäre Gelage zeigen würden, setzt voraus, dass andere Bilder reale Gelage zeigen. Damit wird das Problem des Realitätsgehalts von sog. Alltagsbildern nur eine Stufe weiter geschoben. Desweiteren mag es einleuchten, dass Symposien unter Weinreben den Machtbereich des Dionysos anzeigen. Doch gilt dies nicht für jedes Symposion? Sind Klinengelage und Bodengelage nicht einfach zwei unterschiedliche Wege, für das Thema des Gelages und des dionysischen Rausches eine überzeugende bildliche Formulierung zu finden, deren Unterschied nicht im „Was?“ sondern im „Wie?“ der Darstellung liegt? Nicht jedem ikonographischen Unterschied muss zwangsläufig ein Unterschied in der inhaltlichen Bedeutung eines Bildes entsprechen. Dadurch, dass die Autorin dem ikonographischen Unterschied des Fehlens der Klinen (zu Recht!) jegliche Relevanz für die Frage nach dem Ort des Gelages – ob im Inneren oder im Freien – abspricht, hören die sog. Bodengelage auf, sich grundsätzlich von anderen Symposionsbildern zu unterscheiden und können a priori damit auch keine eigene inhaltliche Deutung mehr für sich beanspruchen. Die Autorin lehnt zwar die positivistische Deutung der klinenlosen Gelage als ‚Picknick im Grünen‘ ab, behält die Gliederung des Bildmaterials, welche mit dieser Deutung einherging, jedoch bei. Damit bleibt ihre eigene Deutung zwangsläufig strukturkonservativ: Indem sie draußen durch ‚Draußen‘ und den Weinberg durch den Machtbereich des Dionysos ersetzt, treten lediglich abstrakte Bedeutungen an die Stelle konkreter Orte.

 

          Doch ebenso wenig, wie die attischen Vasenmaler reale Szenen photographisch abbilden, malen sie Bedeutungen auf die Trinkgefäße: Sie malen Bilder. Möchte man diese Bilder inhaltlich ausdeuten, damit sie einem Auskunft über die Werte und Ideale der Gesellschaft geben, in denen sie entstanden sind, bleibt einem also nichts übrig, als sie zuerst als Bilder ernst zu nehmen. Im Falle der ersten Studie hieße das, die Tatsache berücksichtigen, dass es in der attischen Vasenmalerei ein distinktives Bild der Mutter, das sie als solche von anderen Frauen unterscheidet, nicht gibt. Im Falle der zweiten Studie hieße das, ikonographische Unterschiede mit Bedeutungsunterschieden nicht per se gleichzusetzen. Die in der derzeitigen deutschsprachigen Forschung übermächtige Forderung, Bilder inhaltlich auszudeuten, lässt jedoch ein entsprechend behutsames Vorgehen nicht zu, und steht damit dem Ziel, die Bilder als historische Zeugnisse zu erschließen, selbst im Wege.